(3.2) Ein merkwürdiges Geistertier

Die alten Oberbipper erzählen, dass es in der untersten Kurve von der Schlossstrasse nicht ganz geheuer sei.

In früheren Zeiten beging ein Landvogt einmal ein grausames Unrecht, das er jedoch bestritt.  Ein Unschuldiger musste an seiner Stelle eine harte Strafe erleiden.

Der Landvogt aber nahm seine Schuld mit ins Grab. Weil er zu Lebzeiten nie zu seinem Unrecht gestanden hatte, fand er im Jenseits keine ewige Ruhe.

Als Geist musste er deshalb in gewissen Nächten in jener Gegend herumfahren, wo er sich versündigt hatte und das grosse Unrecht geschehen war.

Manche Oberbipper, die nachts auf der Schlossstrasse  marschierten, sahen in der Nähe eine merkwürdige Gestalt heranschleichen. Sie konnten diese jedoch nie recht beschreiben. Einige sagten, sie sähe einem Hund oder Kalb ähnlich, andere wieder erkannten eher einen Schafbock oder ein Muneli.

Gewisse Leute hörten des Nachts nur ein Rattern und Klirren, als ob Ketten über den Boden geschleift würden. Fuhrleute sagten, ihre Zugrosse am Wagen seien darob arg erschrocken und im Galopp davon gerannt – sogar mit angezogener Bremsmechanik.

Seit mehr als fünfzig Jahren hat das merkwürdige Tier im untersten Schlossrank niemand mehr wahrgenommen.

Es hat alles eben „seine Zeit“.

Die Oberbipper vermuten, dass der besagte Landvogt in der Zwischenzeit erlöst worden sei.

Wer weiss allerdings mit Sicherheit, ob nicht eines Tages wieder ein absonderliches Tier auftauchen könnte  – diesmal aber im oberen Schlossrank.

Darum aufgepasst, es könnte jedermann begegnen!

Quelle: „Flueblüemli und Aarechisle“, Elisabeth Pfluger, Solothurn

"Ein merkwürdiges Geistertier"

Geschrieben am 22. November 2021
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